Phänomen Brünn

DAS IST BRÜNN; Kateřina Tučková: Auf den Spuren der industriellen Geschichte

20. December 2019

Die touristische Saison 2020 in Brünn wird dem Industrial-Stil gewidmet sein, und zwar nicht nur bezüglich der Architektur, sondern auch den Brünner Geschichten aus dieser Zeit. Wahrscheinlich wissen Sie es noch nicht, aber es gibt wirklich genug, worauf Sie sich freuen können. Um Sie darauf einzustimmen, veröffentlichen wir das Kapitel „Auf den Spuren der industriellen Vergangenheit“ aus der Feder der phänomenalen Schriftstellerin Kateřina Tučková, das in dem authentischen Führer DAS IST BRÜNN im Jahr 2017 erschienen ist. Eine der geplanten thematischen Neuheiten im nächsten Jahr wird die Ausgabe des dritten Teils von DAS IST BRÜNN sein, die vom Brünner Industrial-Stil handeln wird.

Wussten Sie, dass Brünn früher einmal mit dem Spitznamen „mährisches Manchester“ prahlen konnte? Hinter dem Geheimnis des Erfolgs, der die Provinzstadt im 19. Jahrhundert in eine starke industrielle Metropole verwandelte, verbargen sich ein paar umsichtige Menschen, deren harte Arbeit und zum Beispiel auch die kriminelle Tat eines jungen hiesigen Adligen. Die reiche Geschichte der Brünner Textilindustrie verfällt langsam zu Staub, aber beim näheren Betrachten der Straßen von Brünn können Sie noch viele ihrer Spuren finden.

Palais Salm-Reifferscheidt (Masarykova 31)

Die Brünner Industrie wurde durch die abenteuerliche Tat des Freimaurers Franz Hugo Salm, der sich im Jahre 1801 nach England aufmachte, um die Pläne für die modernsten Textilmaschinen zu stehlen, erheblich vorangebracht. Er wollte so mittels dieser ersten bekannten Industriespionage die Wettbewerbsfähigkeit der mährischen Textilindustrie fördern. Kurz nachdem er die Pläne an seinem eigenen Körper versteckt, verkleidet als Arbeiter, durch ganz Europa geschmuggelt und sie den damaligen Brünner Wollfabrikanten übergeben hatte, wurde die mährische Metropole zum bedeutendsten Textilzentrum der Habsburger Monarchie. Das Palais Salm musste der Regulierung der Innenstadt weichen, lediglich das Portal am Haus Ecke Josefská- und Masarykova-Straße ist erhalten geblieben.

Schriftstellerin, Dramatikerin, Publizistin, Kunsthistorikerin und Ausstellungskuratorin. Für ihre Bücher gewann sie die Preise Josef-Škvorecký-Preis, Magnesia Litera und Tschechischer Bestseller, im Jahr 2017 wurde ihr durch das Institut für das Studium totalitärer Regime der Preis für Freiheit, Demokratie und Menschenrechte verliehen. Im Ausland wurde sie mit dem durch das Festival im italienischen Salerno verliehenen Literaturpreis ausgezeichnet. Ihre Bücher werden in sechszehn Sprachen übersetzt.

Kateřina Tučková www.katerina-tuckova.cz

Die Fabrik von Max Kohn und den Tugendhats (Vlhká 21)

Die Fabrik zur Produktion von Tuch- und Wollwaren in der Vlhká-Straße, die im Jahr 1870 Max Kohn gründete, wurde ab 1908 von Emil Tugendhat verwaltet und später von seinen Söhnen Hans und Fritz. Letztgenannter ließ nach einem Entwurf des berühmten Architekten Mies van der Rohe eine moderne funktionalistische Villa erbauen, die heute zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört. Obwohl die jüdischen Fabrikanten den Holocaust überlebten, wurde nach dem Krieg ihr gesamtes Eigentum beschlagnahmt und die Fabrik wurde Teil des Nationalbetriebs Mosilana. Die sozialistische Wirtschaft und die wilde Privatisierung vernichteten schließlich die Produktion.

Mosilana Foto Viola Hertelová

Die Fabrik und die Villa der Schoellers (Cejl 50/52)

Die Entwicklung der Textilindustrie im späten 18. Jahrhundert zog auch bedeutende europäische Industrielle nach Brünn. Zu ihnen gehörte auch die Familie Schoeller aus der deutschen Stadt Düren, deren Mitglieder hier im Jahr 1818 eine Niederlassung ihrer Firma gründeten – eine große Wollfabrik in der Cejl-Straße, in deren Nähe sie eine prunkvolle Familienresidenz errichten ließen. Während dem Zweiten Weltkrieg wandten sie sich dem Nationalsozialismus zu und Philip Alois, der ehemalige Leiter des Brünner Familienzweigs, bekleidete im Nazi-Deutschland sogar zahlreiche hohe politische Ämter. Daher zog die Familie im Frühjahr 1945 nach Wien um und ihre Fabrik und die Villa wurden dann von der Republik konfisziert.

Das Vereinshaus (Spolkový dům) (Spolková 8)

Der architektonisch interessante Komplex des Kulturhauses in der Spolková-Straße, der als Treffpunkt für die tschechische Arbeiterschaft errichtet wurde, stand im Jahr 1897 im Zentrum des Fabrikviertels Cejl. Bald wurde er zu einem wichtigen politischen Zentrum, als hier Josef Hybeš Vorträge hielt oder die Brünner Sozialdemokratie gegründet wurde. Im schönen Garten mit dem renommierten Gasthaus trafen sich auch linksorientierte Künstler aus dem Devětsil-Kreis, später diente es als Ort mit Unterhaltung und Tanz, in dem viele ihren ersten Tanzauftritt hatten. In den 90er Jahren siedelte hier die Clubs Harlem und THC. Das nahezu vergessene Gebäude ist heute wegen des Desinteresses des Besitzers in einem desolaten Zustand.

Pawlatschenhäuser (Bratislavská)

Im Cejl-Bezirk wurden im 19. Jahrhundert Pawlatschenhäuser für die in den umliegenden Textilfabriken tätigen Arbeiter errichtet – für tschechische, deutsche und jüdische. Gerade hier ertönte damals der „Hantec“, ein spezifischer Brünner Dialekt, der von den unteren sozialen Schichten verwendet wurde und aus einer Kombination des Tschechischen, Deutschen und Jiddischen entstand. Die kleinen Zimmer wurden oft von Großfamilien bewohnt, die sich auf einer Etage ein Gemeinschaftsbad teilten. Die einzige Trinkwasserquelle befand sich auf dem Hof. Bereits im Jahr 1907 schrieb die Brünner Zeitung Volksfreund über die katastrophalen hygienischen Bedingungen, die hier herrschten – über Darmkatarrh-Epidemien, die zusammen mit Tuberkulose, unter der viele Arbeitnehmer aufgrund der staubigen Umgebung in den Fabriken litten, eine hohe Sterblichkeit der dortigen Bewohner verursachte.

Glassmalerei in dem Kunstgewerbemuseum Foto David Tieku

Das Kunstgewerbemuseum (Uměleckoprůmyslové muzeum) (Husova 14)

Im späten 19. Jahrhundert war Brünn die wichtigste europäische Textilmacht und die Besitzer der hiesigen Fabriken waren einflussreich und reich. Das, was sie mit Ihren Unternehmungen gewannen, wollten sie aber auch an die Stadt zurückgeben – unabhängig von ihrer Herkunft oder Religion vereinten sie sich in dem mährischen Industrieverband (Moravský průmyslový spolek), der soziale und kulturelle Aktivitäten förderte, wie zum Beispiel den Bau des neuen Kunstgewerbemuseums im Neorenaissance-Stil, entworfen von Johann Georg Schön. Neben der Finanzierung des Baus trugen sie auch einzigartige Exponate zusammen, die zur Aufklärung und Unterhaltung des mährischen Volkes dienen sollte. Unter den tschechischen, deutschen und jüdischen Spendern stach insbesondere Theodor Offermann wegen seiner Großzügigkeit hervor.

Die Köffiler Manufaktur und Šmálka Foto Viola Hertelová

Die Köffiler Manufaktur und Šmálka (Lidická, Mezírka)

Die Geschichte der Textilindustrie in Brünn reicht bis Mitte des 18. Jahrhunderts zurück, als J. L. Köffiller an der Stelle des heutigen Hotels „Slovan“ die erste Manufaktur gründete. Das Unternehmen zusammen mit der angrenzenden Arbeiterkolonie übernahm nach seinem Konkurs Heinrich Schmal – nach ihm wurde dann das Gebiet „Šmálka“ benannt. Im Jahr 1870 wurde dort der berühmte Architekt Adolf Loos geboren.

Die Textilschule Foto Viola Hertelová

Die Textilschule in der Francouzská-Straße Nr. 101

The successful textile industry encouraged the factory owners to consider the education of their workers. They founded a school, to educate managers, masters and specialist workers. It soon became the foremost school of its type in the Austro-Hungarian empire.

Vlněna Foto Viola Hertelová

Vlněna und Mosilana (Přízova, Špitálka)

Nach dem II. Weltkrieg wurden alle Brünner Fabriken verstaatlicht. Zu den Startunternehmen gehörten der Nationalbetrieb „Vlněna“, mit dem Zentrum in der Neumark-Fabrik mit dem schönen Bochner-Palais bei Dornych, und der Nationalbetrieb „Mosilana“, der sich zwischen der Křenová- und Radlas-Straße erstreckte. Die Textilindustrie in Brünn ist jedoch in den 90er Jahren unter dem Einfluss wilder Privatisierung fast vollständig verschwunden.

 

Das Kapitel „Auf den Spuren der industriellen Vergangenheit“ ist im authentischen Führer DAS IST BRÜNN erschienen. Dieser Führer und auch der zweite Teil sind auf der Webseite DarkyzBrna.czerhältlich.

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